Die Klassenfahrt in der ersten Klasse wird auf dem Elternabend besprochen. „Und wie sieht es mit dem Thema Einnässen aus?“, fragt die Lehrerin, „sollen wir da etwas beachten?“ Ulrike ist erleichtert, dass das Thema zur Sprache kommt, denn ihr Sohn macht nachts manchmal noch ins Bett. Ihr wäre das Thema zu peinlich gewesen, um es in der großen Runde anzusprechen, doch da die Lehrerin von sich aus darauf kommt, meldet sie sich gleich zu Wort. Auch ein paar andere Eltern scheinen erleichtert zu sein …
Text: Jasmin Zeitz
Üblich ist zunächst die Unterscheidung zwischen dem meist funktionell bedingten Einnässen im Wachzustand, der Harninkontinenz bei Tag, und der Harninkontinenz im Schlaf (Enuresis nocturna).
Die Funktion der Blase und deren Kontrolle unterliegt einem altersbedingten, sehr komplexen Reifungsprozess und ist erst zwischen dem 5. und 6. Lebensjahr abgeschlossen. Reifen heißt, sich entwickeln, was bedeutet, dass neben dem Alter des Kindes auch seine Lebenssituation eine Rolle spielen kann. Ebenso sind kulturelle und soziale Aspekte zu berücksichtigen.
Bei Kindern unter dieser Altersgrenze gilt unkontrollierter Urinabgang somit zunächst als normal und wird in der Regel dem noch unreifen funktionellen Zusammenspiel von Gehirn, Niere und Blase zugeordnet.
Vom unkontrollierten Einnässen als medizinische Diagnose spricht man erst nach dem vollendeten 5. Lebensjahr und auch nur dann, wenn das Einnässen mehrfachund über mindestens drei Monate hinweg auftritt.
Nutzen Sie vorerst seriöse Informationsmöglichkeiten in Ihrem Umfeld (*s. u.). Ungewolltes Einnässen entsteht aus einer Kombination verschiedener (vor allem funktioneller) Faktoren, diese gilt es zu berücksichtigen! Organische Ursachen sind eher selten, aber auch diese sollten unter Umständen abgeklärt werden. Machen Sie sich vor allem bewusst: Ihr Kind, das einnässt, tut es nicht absichtlich.
Vielleicht kennen Sie diese Situation auch aus der eigenen Kindheit. Vorwurfsvolle oder beschämende Reaktionen sind schädlich. Bleiben Sie entspannt und zeigen Sie sich Ihrem Kind gegenüber geduldig. Die meisten Kinder entwachsen dem Einnässen im Verlauf des Grundschulalters.
Tritt eine Enuresis auf, nachdem Ihr Kind bereits für eine längere Phase trocken war, können psychosoziale Stressfaktoren oder psychische Belastungen eine Rolle spielen. Überlegen Sie zunächst für sich, welche Faktoren in Ihrer Familie hier zum Tragen kommen könnten: Wie geht es Ihnen gerade selbst? Gibt es angespannte Situationen in Ihrer Partnerschaft oder vielleicht Familienzuwachs bzw. ein Geschwisterkind? Neue Lebensumstände, wie Einschulung, Umzug etc., können verunsichern und ängstigen.
Sprechen Sie diese Dinge sehr behutsam und altersgerecht an – Kinder in jungen Jahren sind mit der Frage nach dem „Warum“ oft hoffnungslos überfordert. Sie empfangen und reagieren eher auf das Atmosphärische in ihrem Umfeld, sind vielleicht angespannt oder sogar traurig, ohne dass sie genau benennen können, warum sie belastet sind. Nicht ohne Grund nennt man im therapeutisch-seelischen Kontext die überlaufende Blase den Ort „nicht geweinter Tränen“. Hier ist es immer hilfreich, sich Unterstützung zu holen.
In meiner Praxis biete ich Eltern zunächst ein gemeinsames Gespräch ohne ihr Kind an. Gemeinsam sortieren wir die Situation, überlegen entlastende Maßnahmen für Ihr Kind, aber auch für Sie als Eltern. Fragen („Soll ich mein Kind nachts wecken?“ oder Lehrkräfte informieren – ja oder nein? etc.) sollten in einem auf die Familie zugeschnittenen Kontext geklärt werden. Jede Familie hat ihre individuellen Bedürfnisse und Gewohnheiten. Inner-familiäre und vor allem gesellschaftliche Wertungen spielen beim Thema Kontinenz eine nicht zu unterschätzende Rolle. Nicht selten entsteht erst eine psychische Belastung aufgrund des Umgangs, obschon zunächst (bei einem vielleicht älteren Kind) rein organische Gründe vorlagen.
Können Sie dann mit unterstützender Beratung als Eltern entspannter mit dieser Thematik umgehen, erübrigt sich häufig eine Therapie fürs Kind – auch wenn die Waschmaschine schon wieder läuft …
*Weiterführende Informationen:
KgKs Konsensgruppe
Kontinenz Schulung im Kindesalter e.V.
www.Kontinenzschulung.de
Die KgKs vereint Informationen von Ärzt*innen der Kinder- und Jugendmedizin; Kinderurolog*innen, Urotherapeut*innen, Pädagog*innen, und Psychotherapeut*innen.
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