Es ist Juni 1945 und im zerstörten Hamburg begegnen sich drei Jugendliche: Jakob hält sich versteckt und nennt sich Friedrich, damit niemand mitbekommt, dass er jüdische Vorfahren hat. Sein Kontakt zur Außenwelt ist eigentlich Herr Hofmann, der ihn mit Lebensmitteln versorgt, eines Tages aber nicht mehr kommt. Das zwingt Jakob, seinen Unterschlupf zu verlassen und er trifft auf die Bäckerstochter Traute und auf Hermann, der immer noch seine HJ-Kleidung trägt und seinen Erlebnissen als HJ-Führer nachtrauert. Jakobs Mutter wurde nach Theresienstadt gebracht, Hermanns Vater hat im Krieg seine Beine verloren.
Die drei Jugendlichen müssen auf unterschiedliche Weise mit den Folgen des Krieges für ihre Stadt, ihre Familie und ihr weiteres Leben klarkommen. Kirsten Boie erzählt in ihrem Roman sachlich und gleichzeitig sehr eindrucksvoll, welche Herausforderungen auf sie warten, wie ihnen das gelingt.
Ein sehr lesenswertes Jugendbuch, empfohlen ab 14 Jahren.
Kirsten Boie, Oetinger 2022, ISBN 978-3-7512-0163-6, 14 €
Kirsten Boie, geboren 1950 in Hamburg, ist eine der renommiertesten deutschen Kinder- und Jugendbuchautorinnen. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises für ihr Gesamtwerk, das Bundesverdienstkreuz und die Hamburger Ehrenbürgerwürde.
Nina Horn, Programmleiterin des Oetinger Verlags, hat mit ihr über ihren neuen Jugendroman „Heul doch nicht, du lebst ja noch“ gesprochen.
Nina Horn: Was hat dich dazu bewegt, nach „Dunkelnacht“ die Geschichte um „Heul doch nicht, du lebst ja noch“ zu erzählen?
Kirsten Boie: Zum 75. Jahrestag des Kriegsendes stand das Thema im Mai 2020 viele Tage lang im Zentrum der Berichterstattung überall. Mir ist dabei ständig meine eigene Nachkriegskindheit wieder eingefallen – das Spielen auf Trümmergrundstücken, die Gespräche der Erwachsenen über Hunger und Kälte, die Erzählungen meiner älteren Cousins und Cousinen über Bombennächte.
Nina Horn: Gibt es bei diesem Titel einen Realitätsbezug, der dich inspiriert hat?
Kirsten Boie: Tatsächlich waren es diese Kindheits-Erinnerungen. Der Krieg, die Bombennächte und die Hungerzeit danach spielten in den fünfziger Jahren in den Gesprächen der Erwachsenen bei Kaffee und Kuchen oder in ihren Erzählungen für uns Kinder noch eine prominente Rolle. Keine Rolle, übrigens, spielten die Verbrechen der Nationalsozialisten, insbesondere die Shoah.
Nina Horn: Welche Quellen sind in diesen Roman eingeflossen?
Kirsten Boie: Zunächst mal die vielen audiovisuellen und Text-Dokumente, die man im Internet zum Kriegsende in Hamburg finden kann. Dazu Aufsätze, Erinnerungsbücher und Fotodokumentationen zu dieser Zeit (zum Beispiel, aber nicht nur, Sabine Bode, „Die vergessene Generation“, Schulz/Radebold/Reuleke, „Söhne ohne Väter“, Harald Jähner, „Wolfszeit“) aber auch literarische Darstellungen (zum Schwarzmarkt zum Beispiel Siegfried Lenz’ „Lehmanns Erzählungen oder So schön war mein Markt“), für Jakobs Geschichte die Ausstellung am Hannoverschen Bahnhof in Hamburg, von dem die Transporte in den Osten abgingen, Info-Materialien von dort und von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, vor allem aber die beiden unglaublich informativen, detailreichen und beeindruckenden Bücher von Beate Meyer vom Institut für die Geschichte der deutschen Juden: „Die Verfolgung und Ermordung der Hamburger Juden von 1933 bis 1945“ und „Jüdische Mischlinge. Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933–1945“. Ich bin Beate Meyer zudem sehr dankbar, dass sie das Manuskript auf seine Korrektheit bezüglich sämtlicher Angaben zu diesem sensiblen Thema durchgesehen hat.
Nina Horn: Du hattest mir erzählt, dass du diesen Roman auch in Verbindung mit „Monis Jahr“ und „Ringel, Rangel, Rosen“ siehst. Kannst du das noch ausführen?
Kirsten Boie: In beiden genannten Büchern geht es (auch) um die Wahrnehmung der NS-Zeit und des Krieges in den Jahren nach 1945, in „Ringel, Rangel, Rosen“ vor allem darum, wie die erste Nachkriegsgeneration Anfang der sechziger Jahre zum ersten Mal schockartig mit den Verbrechen des Nationalsozialismus konfrontiert war. In diesen Büchern wird also rückblickend auf die Jahre 1933 bis 1945 geschaut und es geht um die Auseinandersetzung mit der Zeit durch Kinder, Jugendliche und Erwachsene. „Heul doch nicht, du lebst ja noch“ dreht sich nun um die ersten Wochen des Friedens, die keineswegs eine „Stunde Null“ waren.
Nina Horn: Welche aktuellen Anknüpfungspunkte siehst du bei diesem Titel?
Kirsten Boie: Ich sorge mich um Jugendliche, die in immer größerer Zahl und in immer jüngerem Alter eine Bewunderung für den Nationalsozialismus, sogar für den zweiten Weltkrieg, entwickeln, weil sie sich in alterstypischen Grandiositätsfantasien als Eroberer und Herrscher der Welt sehen. Ihnen möchte ich erzählen, wie die NS-Jahre geendet haben, wie furchtbar die Konsequenzen nicht nur für die Verfolgten und Opfer des Nationalsozialismus, sondern auch für praktisch alle anderen Deutschen waren. Und ich habe die Hoffnung, dass so ein erweiterter Blick sie vielleicht nachdenklicher macht.