Glückliche Kinder, aus denen später glückliche Erwachsene werden – das wünschen sich wohl alle Eltern. Bei diesem Wunschbild spielt oft die Frage nach der Intelligenz eine große Rolle. Kinder, die intelligent und leistungsstark sind, schaffen die Schule meist ohne Probleme. Später ergreifen sie einen Beruf, der sie ausfüllt und anregt, genügend Geld bringt und ihnen ein zufriedenes Leben ermöglicht. Ist Intelligenz also der Dreh- und Angelpunkt für den Verlauf unseres Lebens? Was ist eigentlich Intelligenz, wo kommt sie her und wie entscheidend ist sie wirklich für den Erfolg in Schule und Beruf?
Mit all diesen Fragen beschäftigen sich die Menschen schon seit der Antike. Vor allem Psycholog*innen, Neurowissenschaftler*innen und inzwischen auch Ökonom*innen setzen sich mit Intelligenz auseinander. Das erklärt die Vielzahl an Definitionen. 1923 schrieb der US-Psychologe Edwin Boring: „Intelligenz ist, was ein Intelligenztest misst.“ Damit zog er sich elegant aus der Affäre. Umfassender ist die Definition der US-amerikanischen Bildungspsychologin Linda Gottfredson von 1994: „Intelligenz ist eine sehr allgemeine geistige Kapazität, die – unter anderem – die Fähigkeit zum schlussfolgernden Denken, zum Planen, zur Problemlösung, zum abstrakten Denken, zum Verständnis komplexer Ideen, zum schnellen Lernen und zum Lernen aus Erfahrung umfasst.“ Intelligenz scheint eine Ansammlung vieler nützlicher Fähigkeiten zu sein, für die der Mensch vor allem eines braucht: sein Gehirn.
Auch die Frage, ob und wie sehr Intelligenz vererbt wird und wie sie von der Sozialisation des Einzelnen abhängt, ist nicht abschließend geklärt. Verbreitet ist die Auffassung von zwei Formen von Intelligenz: Die sogenannte kristalline Intelligenz setzt sich aus den Erfahrungen eines Menschen und den Fakten, die er gelernt hat, zusammen. Daneben gibt es die sogenannte fluide Intelligenz, mit der die Fähigkeit gemeint ist, sich Wissen anzueignen. Die gute Nachricht für alle, die in der Kindheit mit dem Stempel eines mäßigen Intelligenzquotienten bedacht wurden: Intelligenz ist eine Eigenschaft, die im Laufe des Lebens zunehmen kann!
„Manche Menschen benützen ihre Intelligenz zum Vereinfachen, manche zum Komplizieren“, schrieb einst der Schriftsteller Erich Kästner. In der Tat haben es sehr intelligente Menschen im Leben nicht unbedingt leichter als ihre weniger intelligenten Zeitgenoss*innen. Das ist auch die Einschätzung von Swantje Goldbach vom Potsdamer Lernwerk, das Schüler*innen Hilfe zur Selbsthilfe anbietet: „Intelligente Kinder sind in der Schule nicht immer die Besten“, weiß die Gründerin und pädagogische Leiterin des Instituts. Andere Eigenschaften scheinen sowohl für die Schule, als auch für den Beruf und für das ganze Leben mindestens genauso entscheidend zu sein.
„Willenskraft und die Fähigkeit, sich anzustrengen, sind ganz wichtig“, sagt Goldbach. Leider sei die Willenskraft schon bei Grundschulkindern oft erschöpft. Daran hätten die Erwachsenen häufig großen Anteil. „Wir fordern zu viel und lassen die Kinder einfach zu wenig probieren.“ Das fange schon auf dem Spielplatz an. „Wir helfen zu viel. Kinder sollen allein klettern und wenn sie irgendwo noch nicht allein hinaufkommen, ist das eben noch zu früh.“ Auch beim Turnen sollten Eltern ihre Kinder lieber ermutigen, als immer gleich zu helfen und zu loben. „Wir müssen abwarten und zur Verfügung stehen“, sagt Goldbach. „Letztlich gewinnen die Eltern, die ihre Kinder nicht zu sehr schieben und drücken.“
Als weitere Schlüsselkompetenzen bezeichnet Goldbach die Fähigkeit zur Kommunikation und zur Konzentration. Beides können Eltern von Anfang an fördern, indem sie ihrem Kind möglichst aufmerksam zuhören und mit ihm sprechen, ohne zu monologisieren. Es klingt merkwürdig: Dazu gehört auch, das Kind anzusehen. Gerade im Zeitalter des Smartphones ist das nicht mehr selbstverständlich. Aufmerksame Eltern, die ihren Kindern viele Sinneserfahrungen ermöglichen, sie viel ausprobieren lassen, ohne immer gleich einzugreifen, fördern die Konzentrationsfähigkeit und Ausgeglichenheit.
Wird die Intelligenz in Bezug auf Erfolg und Leistungsfähigkeit überbewertet? Es scheint so. Wer sich auf dem Arbeitsmarkt behaupten will, sollte teamfähig, kreativ, gewissenhaft, offen, ausgeglichen und selbstverantwortlich sein. Das wird in Stellenbeschreibungen und Auswahlverfahren deutlich. Die Potsdamer Ergotherapeutin Anja Träger, die seit einigen Jahren auch Lerncoaching für Schulkinder anbietet, sieht das ähnlich: „Intelligenz ist nicht alles.“ Sie hält Geduld und Motivation für besonders wichtig. Zur Geduld zähle auch eine gewisse Frustrationstoleranz, die Fähigkeit, Langeweile zu ertragen, ein gewisses Durchhaltevermögen und innere Ruhe. „Das ist in unserer ungeduldigen und schnelllebigen Zeit mit der täglichen Informationsflut gar nicht so einfach“, gibt sie zu. Was helfe, sei die Fähigkeit, Prioritäten zu setzen.
Für die Motivation und Begeisterungsfähigkeit, die jedes Kind grundsätzlich mitbringe, sei gerade in jungen Jahren das lustbetonte Lernen besonders wichtig. Später sei es entscheidend, dass das soziale Gefüge im Lernumfeld stimme. „Viele sehr intelligente Kinder werden in der Schule oft nicht mitgenommen und verlieren dann die Motivation“, sagt Träger. Die schulischen Leistungen lassen nach – ein Jammer, denn gute Noten sind zwar nicht alles, aber sie vereinfachen den weiteren Weg ungemein.
Anja Träger betont die Vorbildfunktion, die Eltern für ihre Kinder einnehmen, ob sie es nun wollen oder nicht. Wie Kinder sprechen, sich streiten, nach Lösungen suchen und lernen, hängt im großen Maße von den Eltern ab. „Eltern sollten absolut verlässlich sein, ihre Versprechen auch einhalten und ihr Kind bewusst und in Maßen loben.“ Kinder, die andauernd übertrieben gelobt werden, würden das Lob gar nicht mehr wahrnehmen. Ein positives Selbstbild beziehungsweise der Glaube an die eigenen Fähigkeiten hängt nicht allein vom Lob anderer ab. Erfolgserlebnisse stellen sich ein, wenn die Kinder genug Zeit bekommen, ihre Fähigkeiten zu entdecken und zu entwickeln. „Kinder dürfen sich langweilen“, sagt Träger. Eltern sollten deshalb die Zeit ihrer Kinder nicht mit Aktivitäten verplanen, sondern ihnen unstrukturierte Freizeit ermöglichen. „Im Spiel haben Kinder viele vertiefende Momente, aus denen wir sie nicht herausholen sollten. Das ist die Grundlage für Konzentrationsfähigkeit und Ausgeglichenheit.“
Eigentlich klingt das alles doch gar nicht so schwer. Eltern müssen Geduld haben und den Mut aufbringen, sich dem Förder- und Freizeitwahn zu entziehen. Sie sollten ihre Kinder einfach Kinder sein lassen und sich Zeit für sie nehmen, wenn diese es brauchen. Wer seinem Kind genügend Freiraum verschafft, ermöglicht es ihm, sich im eigenen Tempo zu entfalten. Der Rest kommt von allein. Autorin: Maren Herbst
Aus PotsKids! Oktober 2015