Wir alle wollen das Beste für unsere Kinder. Das gilt ganz besonders für Eltern von Kindern mit schweren, mehrfachen Behinderungen, die ihr Leben lang noch mehr Fürsorge und Pflege benötigen. In Deutschland betrifft das rund 150.000 Kinder. Der Elternwille, dem Kind mit all seinen speziellen Anforderungen bestmöglich und rund um die Uhr gerecht zu werden, ist stark, doch die Energiereserven, das über Jahrzehnte durchzuhalten, sind begrenzt. „Eltern sollten sich guten Gewissens Hilfe holen und auch über die Unterbringung ihres Kindes in einer professionell geführten Wohneinrichtung nachdenken“, meint die Psychologin und Familientherapeutin Katherine Biesecke, die 15 Jahre lang das Kompetenzzentrum für Taubblinde im Babelsberger Oberlinhaus geleitet hat.
„Die Entscheidung, das eigene Kind in einem Heim aufwachsen zu lassen, fällt Eltern in der Regel sehr schwer. Sie ist in der Gesellschaft und selbst in Fachkreisen sehr unpopulär und gilt oft als letzte Notlösung“, so Biesecke. Selbst der Begriff „Heim“ sei mit einem Stigma behaftet. Zu Unrecht, findet sie, denn es gehe in den Wohneinrichtungen für Kinder mit Behinderungen darum, diesen ein zweites Zuhause zu geben, in dem sie liebevoll und professionell betreut werden und kindgemäß aufwachsen können.
Wohneinrichtungen, in denen wertschätzend, professionell und zielgerichtet gearbeitet wird, sind eine Bereicherung für unsere Gesellschaft. Menschen mit großem Fachwissen, langjährigen Erfahrungen und außerordentlichem Engagement kümmern sich liebevoll um die Kinder und Jugendlichen, die ihnen anvertraut wurden. „Eltern, die ihr Kind in ein Heim geben, sind keine Rabeneltern“, betont Biesecke. „Die meisten haben bereits unendlich viel unternommen, um das Leben ihres Kindes zu erleichtern und ihm gerecht zu werden, ehe sie diesen Schritt wagen.“
Von der Entscheidung, ein Kind mit Behinderung in einer Wohneinrichtung aufwachsen zu lassen, können alle Beteiligten profitieren. Die Kinder treffen auf Gleichaltrige mit ähnlichen Besonderheiten. Das Leben in der Gemeinschaft ermöglicht ihnen soziales Lernen und eine gewisse Normalität. Das Fachwissen, die Geduld und das Fingerspitzengefühl der Betreuer*innen eröffnen ihnen zahlreiche Möglichkeiten und Chancen. Eltern werden davor bewahrt, sich komplett aufzureiben. Die Trennung fällt ihnen sehr schwer, weil sie sich erst daran gewöhnen müssen, ihr Kind nicht mehr täglich zu sehen und zu versorgen. Gleichzeitig können sie aufatmen und die Rückkehr zu einem Leben genießen, das Freizeit, Freundschaften und die Möglichkeit, berufstätig zu sein, umfasst.
„Die Arbeit einer Wohneinrichtung macht eine Familie keineswegs überflüssig“, sagt Biesecke. Angehörige können sich regelmäßig in die Betreuung und Versorgung ihres Kindes einbringen. „Eine Wohneinrichtung stärkt Familien in ihrem Zusammenhalt und ihren Möglichkeiten.“ Fühlt sich das Kind wohl und entwickelt sich gut, ist die Erleichterung bei den Eltern groß, denn den meisten fällt dieser Schritt sehr schwer.
So ging es auch den Eltern der 13-jährigen Tonia, die seit ihrem vierten Lebensjahr in einer Wohngruppe des Vereins Oberlinhaus in Potsdam lebt. Das vollständig gelähmte, blinde und geistig behinderte Mädchen spricht nicht und weint sehr viel. Sie kommuniziert, indem sie jammert, schreit, lacht, gluckst oder lautiert. Sie ist willensstark, hat Wünsche und Ansprüche, die sie jedoch nicht konkret ausdrücken kann. Alle 20 Minuten fordert sie ein neues Angebot ein. Ihre Eltern Toni Weidl und Sandy Gliese erinnern sich*: „Wir waren unglaublich beansprucht durch die Versorgung von Tonia, tagsüber und auch nachts. Wir mussten ständig Standby sein. Unsere Nerven lagen blank.“ Darunter litt auch Tonias älterer Bruder. „Wir haben bald erkannt, dass wir was ändern müssen, sonst geht die ganze Familie den Bach runter.“ Nach einigen Wochen in einer Kurzzeitpflege stellte die Familie fest, dass es ihnen allen besser ging, auch ihrer Tochter. Dann kam die Suche nach einer Wohneinrichtung. Inzwischen verbringt Tonia mehr Zeit in der Wohngruppe als in ihrer Familie. Sie mag Musik, ist gern draußen, kuschelt gern, mag die Nestschaukel und das Wasserbett. Ihre Eltern sagen: „Wir sind sehr froh, dass sie in der Wohngruppe einen Ort gefunden hat, wo sie hingehört. Genauso hat sie bei uns zu Hause ihren Platz und das wird auch so bleiben.“
Die 22-jährige Saskia Hillmann kam mit 14 Jahren in die Babelsberger Wohnstätte für Kinder und Jugendliche. Inzwischen ist sie in eine Wohngruppe für Erwachsene umgezogen. Die blinde junge Frau ist geistig behindert. Als sie in die Pubertät kam, schrie sie viel und biss sich Arme und Hände blutig. Inzwischen mag sie Gesellschaft und zarte Berührungen. „In der Wohngruppe war es für Saskia von Anfang an wichtig, dass sie immer die gleichen Abläufe hatte. Das kriegt man zu Hause ja gar nicht hin, schon gar nicht, wenn noch andere Kinder da sind“, sagt ihre Mutter Yvonne Hillmann. Angesichts der positiven Entwicklung, die ihre Tochter in der Wohnstätte gemacht hat, denkt sie manchmal, sie hätten sie noch viel früher dort hinbringen sollen. „Ihr gefällt es dort. Das ist ihr gut bekommen und damit geht es mir auch gut.“
Kinder mit Behinderungen haben nicht nur das Recht auf Leben und medizinische Versorgung, sondern auch das Recht auf eine fördernde und fordernde Umgebung, um sich nach ihren Möglichkeiten entwickeln zu können. In einer Familie mit mehreren Kindern und berufstätigen Eltern ist nach einem durchstrukturierten Tag mit zusätzlichen Erfordernissen wie Therapien und Terminen bei Spezialisten kaum noch Zeit und Kraft für eine zusätzliche Förderung. Wer so eingespannt ist, ist auf ein gut funktionierendes Netzwerk von Freunden und Verwandten angewiesen.
„Ohne die Unterstützung unserer Familien hätten wir unser Leben mit Max nicht organisiert bekommen“, berichtet Lisa Konczak. Ihr 20-jähriger Sohn Max ist gehörlos und geistig behindert. Er kam als 10-Jähriger in die Wohneinrichtung. Die Entscheidung fiel auch ihr nicht leicht: „Danach hatte ich bestimmt noch ein Jahr lang ein schlechtes Gewissen.“ Konczak wollte auch ihr eigenes Leben führen und berufstätig sein, ohne ihren Sohn zu vernachlässigen. „Für Außenstehende ist es ja schon schwer zu verstehen, was es bedeutet, mit einem Kind zu leben, das einfach so viel langsamer ist als andere, geschweige denn, wenn es noch taub und ohne Sprache ist und sich vielleicht selbst schlägt. Das stellt sich niemand vor.“ Über die Wohnstätte sind Max‘ Eltern sehr froh, wohl wissend, dass die Verantwortung für ihn nie endet: „Schließlich werden wir uns noch um unseren Sohn kümmern, wenn wir 70 sind. Das ist eine Tatsache, die keiner sieht. Niemand sieht, dass wir mit unserem Kind an jedem Wochenende gebunden sind und das unser ganzes Leben lang.“
Im Laufe der Jahre werden Eltern von Kindern mit schweren Behinderungen oft zu Expert*innen und Kämpfer*innen für die Belange ihres Kindes. Ein gutes Netzwerk, Selbsthilfegruppen, Initiativen und Blogs sind da sehr wichtig. Sie können helfen, Verbündete und Menschen mit ähnlichen Erfahrungen kennenzulernen und sich auszutauschen.
Das ist sehr hilfreich, denn Hürden gibt es viele. So unterliegt ein Kind mit Behinderung in Deutschland dem Sozialgesetz und wird zum Sozialhilfeempfänger, wenn es Frühförderung erhalten oder in eine Wohneinrichtung ziehen soll. „Auch das ist eine Hürde“, weiß Biesecke. Die Akzeptanz von Mitarbeitenden aus Behörden gegenüber dem oft schwer errungenen Wunsch nach einer Heimunterbringung für das eigene Kind sei oft noch gering. Sie fordert: „Jede Familie muss für sich entscheiden dürfen, wie sie leben kann und will, wie ihr Kind aufwachsen soll und welche der möglichen Hilfen sie in Anspruch nehmen möchte. Das muss Eltern ohne Bevormundung oder Verurteilung zugestanden werden.“ (Maren Herbst)
*Die Erfahrungsberichte der Eltern von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen sind dem Buch „Zu Hause im Heim“ von Katherine Biesecke entnommen.
Hier findet ihr Unterstützungsangebote und einen Buchtipp.