Foto: Klinikum Westbrandenburg Kinder- und Jugendklinik, Potsdam
Entwicklung verläuft sehr individuell. Doch wenn Eltern darauf aufmerksam (gemacht) werden, dass sich ihr Kind anders entwickelt als die Altersgenossen, steht meist eine genaue Betrachtung des Entwicklungsstandes an. Wir haben mit der Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, Schwerpunkt Neuropädiatrie, Dr. med. Mona Dreesmann über die Angebote des Sozialpädiatrischen Zentrums Potsdam gesprochen.
Welche Kinder und Jugendlichen kommen zu Ihnen ins SPZ?
Zum einen sind es Kinder, bei denen man mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit voraussehen kann, dass Entwicklungsprobleme auftreten könnten, zum Beispiel haben sehr früh geborene Kinder ein deutlich erhöhtes Risiko oder Kinder mit Hirnblutungen. Bei ihnen kann es später zu Bewegungsstörungen, Konzentrationsproblemen oder dergleichen kommen. Oder es wird schon pränatal, also bei der Schwangerschaftsvorsorge, eine Diagnose gestellt wie Trisomie 21, die mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Entwicklungsprobleme mit sich bringt.
Und dann gibt es Kinder, die erst einmal ganz gesund geboren werden und bei denen beispielsweise durch akute Erkrankungen oder erst im späteren Verlauf auffällt, dass sie sich vielleicht langsamer oder anders entwickeln als erwartet.
Welche Bereiche der Entwicklung meinen Sie?
Es gibt ganz verschiedene Entwicklungsbereiche: Sprache, Motorik, geistige Entwicklung, Sozialverhalten zum Beispiel. Die schauen wir uns dann genau an.
Wie kommen die Kinder und Jugendlichen in der Regel zu Ihnen?
Ganz viele kommen durch die Kinderärzte. Diese arbeiten heutzutage bei ihren U‑Untersuchungen mit den sogenannten Grenzsteinen, das heißt, sie stellen zu verschiedenen Fähigkeiten in einem Alter den Eltern Fragen und schauen sich das Kind daraufhin an. Wenn ein bestimmter „Punktescore“ nicht erreicht wird, wird ein Arzt/eine Ärztin erst einmal aufmerksam und bestellt das Kind vielleicht in kürzeren Abstanden ein, um zu schauen, ob die Entwicklung vorangeht oder ob es einfach nur eine kurze Entwicklungspause war und es dann wieder weitergeht. Denn sowas ist völlig normal in der kindlichen Entwicklung. Das kennen viele Eltern, dass ihr Kind vielleicht motorisch tolle Fortschritte macht, aber sprachlich passiert eine Zeit lang wenig. Kaum hat das Kind das freie Laufen erlernt, geht es dann sprachlich weiter. Es ist ganz normal, dass in einem Bereich die Entwicklung auch einmal zum Stillstand kommen kann oder ein Kind sogar etwas wieder verlernt.
Und wann kommen die Kinder dann zu Ihnen?
Wenn die Entwicklung längerfristig stockt, kann es sein, dass die Ärzte die Kinder zu uns schicken. Es sind auch häufig Erzieherinnen, die die Eltern auf Entwicklungsverzögerungen aufmerksam machen. Die Kitas sind insgesamt sehr gut geschult. Dort ist viel passiert in den letzten Jahren, durch das Einführen von strukturierten Entwicklungsgesprächen. Die Erzieherinnen sind diejenigen, die die Kinder jeden Tag erleben, die oft einen guten Eindruck haben in der Langzeitbetrachtung. Doch der Weg zu uns läuft immer über eine Indikation von einem (Kinder-)Arzt.
Wir haben einen gesetzlichen Auftrag, der im Sozialgesetzbuch verankert ist, und der bedeutet im Prinzip, dass ein Kind dann in einem SPZ angemeldet werden soll, wenn es nicht von einem Kinderarzt oder einer Frühförderstelle ausreichend behandelt werden kann. Wir sind also quasi in der Diagnostikstufe die Letzten in der Kette, was das Thema Entwicklungsstörungen angeht.
Das heißt, hier findet dann die Diagnostik statt und Sie versuchen herauszufinden, wo das Problem genau liegt?
Ja, genau. Es gibt verschiedene Tiefen der Diagnostik: einmal ein Screening, dann eine Basisdiagnostik und gegebenenfalls eine Mehrbereichsdiagnostik.
Screening meint, die Eltern bekommen einen Fragenbogen und geben zum Beispiel an, wie viele Worte ihr Kind sagt. So erfahren wir grob etwas über den Entwicklungsstand. Für die Basisdiagnostik gibt es standardisierte Tests. Das Screening und diese Tests machen teilweise auch die Kinderärzte selbst.
Und in der Mehrbereichsdiagnostik werden die verschiedenen Bereiche der Entwicklungsstörungen betrachtet. Wir schauen neben dem Lebensumfeld des Kindes dann auch, ob es zum Beispiel neben der Sprachstörung noch motorische oder geistige Entwicklungsstörungen gibt.
Was erwartet die Eltern bei einer Diagnostik hier vor Ort genau?
Die Eltern bekommen zunächst einmal einen Fragebogen, der viele Bereiche abbildet, damit wir einige Vorinformationen haben: den Vorstellungsgrund und dann natürlich die ganze Vorgeschichte vom Kind, Schwangerschaft, Geburt, Erkrankungen etc. Das sind für uns sehr wichtige Informationen, um eine erste Einschätzung vornehmen zu können. Es ist für uns auch gut, wenn es Berichte aus der Kita oder vom Kinderarzt gibt, die wir einbeziehen können. Dann versuchen wir, uns aufgrund der Informationen erst einmal ein Bild zu machen und bei Terminen dann unsere verschiedenen Fachgebiete hinzuzuziehen, wie Kinderarzt, Psychologen, Heilpädagogin, Sprach‑, Physio- oder Ergotherapeuten.
Eine kurze Zwischenfrage: Wenn die Eltern den Bogen nicht selbst ausfüllen können oder sich damit überfordert fühlen, gibt es dann Unterstützung?
Ja, gegebenenfalls gibt es Unterstützung beim Ausfüllen, wir betreuen zum Beispiel ja auch Kinder von Geflüchteten. Oder der Kinderarzt kann helfen. Da findet sich immer ein Weg.
Und beim ersten Termin?
Die Eltern lernen erst einmal den zuständigen Arzt kennen, dafür nehmen wir uns in der Regel viel Zeit, so 1,5 Stunden. Dort wird das Gespräch mit den Eltern geführt und parallel das Verhalten des Kindes beobachtet: wie agiert es? Ist es sehr still oder räumt es das ganze Zimmer aus? Wie bewegt es sich? Wie ist die Interaktion? Nimmt es Blickkontakt auf? Kann es sich altersentsprechend unterhalten? Kann es sich selbst gut regulieren oder weint es die ganze Zeit? etc. So entsteht ein erster Eindruck. Dann gibt es eine ganz normale körperliche Untersuchung.
Bei weiteren Terminen stehen zum Beispiel die Sprachdiagnostik oder heilpädagogische Diagnostik im Mittelpunkt. Oder vielleicht ein Intelligenztest, wenn es in Richtung Schule geht.
Und dann läuft hinter den Kulissen relativ viel. Es gibt Teambesprechungen, bei denen wir alles zusammentragen, uns über Fördermaßnahmen Gedanken machen oder wo über spezielle Unterstützungen auch für die Eltern gesprochen wird. Es ist eine Idee in den SPZ, dass man quasi den Blick etwas weitet und das Kind im Kontext der Umgebung sieht, in der es aufwächst.
Was möchten Sie bei der Diagnostik genau herausfinden?
Einmal geht es um das Feststellen des Entwicklungsstandes – also ob ist das Kind altersgerecht entwickelt ist – in Sprache, Kognition etc. Oder gibt es Auffälligkeiten, eine große Abweichung von dem, was das Kind eigentlich können müsste? An dem Punkt machen wir uns Gedanken, ob nicht doch eine Grunderkrankung vorliegen kann.
Bei Ihnen ist also ein wichtiger Schwerpunkt die Diagnostik der potentiell dahinterstehenden Grunderkrankung?
Genau. Das ist der medizinische Hintergrund, der parallel betrachtet wird. Wobei man sagen muss, dass es für uns Neuro- und Sozialpädiater eine Revolution ist, dass man heute so viel genetisch herausfinden kann. So können wir häufig eine konkrete Diagnose bei schweren Entwicklungsstörungen stellen, wenn dies von den Eltern gewünscht ist. Laut wissenschaftlichen Studien ist es meist eine Entlastung für die Eltern, den Grund zu wissen – dass es zum Beispiel nicht an fehlender Kompetenz bei der Erziehung liegt, sondern dass Kinder und Jugendliche mit derselben Diagnose auch diese Entwicklungsverzögerungen oder Verhaltensauffälligkeiten haben.
Ziel ist es dabei, die richtigen Fördermöglichkeiten zu empfehlen, dazu gehören unter anderem Therapien oder eine Integrations-Kita. Für viele Eltern ist es auch wichtig, dass sie eine realistische Prognose zu den Entwicklungsmöglichkeiten ihres Kindes erhalten.
Es gibt natürlich auch Kinder, die eine Aufholentwicklung zeigen, das heißt, die zum Beispiel mit der entsprechenden Förderung bei schweren Sprachauffälligkeiten für das spätere Berufsleben eine gute Ausbildungsprognose haben. Wir haben hier natürlich auch viele Patienten, wo uns klar ist, das es sich vermutlich nicht „auswächst“.
Wie reagieren die Eltern auf eine solche Diagnose?
Das ist ganz unterschiedlich – auch innerhalb von Paaren. Einige möchten möglichst ganz genau wissen: Kann mein Kind später selbständig leben oder wird es in einer Behinderten-WG wohnen und in einer Behinderten-Werkstatt arbeiten? Und andere, die leben im Hier und Jetzt und sagen: „Ich finde mein Kind toll, so, wie es jetzt ist. Und ob es auf eine normale Schule geht oder auf eine Förderschule, ist mir eigentlich egal. Mein Kind ist jetzt 1,5 Jahre alt und ich möchte das gar nicht wissen.“ Jeder hat andere Bewältigungsstrategien.
Bieten Sie auch Unterstützung für die Eltern an oder gibt es dafür eher Selbsthilfegruppen?
Wir bieten immer an, mit einem unserer Psychologen zu sprechen, als Paar oder auch alleine. Es ist ganz wichtig, die Eltern zu begleiten. Oftmals ist das Thema ja nicht etwas, das vielleicht nach einem halben Jahr verarbeitet ist. Es ist ja gegebenenfalls eine lebenslange Begleitproblematik, die immer mitschwingt.
Das ist für viele Eltern keine einfache Aufgabe, dies alles ins Leben zu integrieren. Aber es gibt wirklich viele Eltern, vor denen ich den Hut ziehe, was die alles leisten! Zumal meiner Meinung nach die Gesellschaft ihnen viel zu wenig Wertschätzung entgegenbringt.
Selbsthilfe ist auch immer gut, da sind viele von unseren Eltern ganz engagiert, finden vielleicht im Angesicht der neuen Situation Aufgaben, helfen einander. Das halte ich für eine tolle Bewältigungsstrategie. Viele können sich da wirklich auf die Schulter klopfen!
Welche staatlichen Unterstützungen gibt es für die Familien?
Was der Staat an sozialrechtlichen Möglichkeiten anbietet, ist sicherlich mehr als in anderen Ländern, aber es ist oft mit sehr vielen Antragsformularen, Widersprüchen und so weiter verbunden. Das finde ich manchmal beschämend. Da versuchen wir ebenfalls, die Eltern zu unterstützen.
Es gibt Eltern, die gut mit der Beeinträchtigung ihres Kindes umgehen können, für die aber der Zeitaufwand für das ganze Drumherum – Anträge, Termine etc. – enorm belastend ist, weil es manchmal mehrere Stunden die Woche in Anspruch nimmt. Das würde ich mir für die Familien anders wünschen.
Viele Kinder lassen sich auch nicht einfach so in „antraggerechte Kategorien“ stecken und dann wird es manchmal schwierig. Wir machen dazu Strategiegespräche, zu denen wir Jugendamt, Sozialamt, Kita, Pflegedienst und Einzelfallhelfer zusammen einladen und uns gemeinsam besprechen. Die Idee ist ja eigentlich, dass wir immer vom Kind und von der Familie aus denken: Was hat das Kind für eine Besonderheit, welche Stärken und Schwächen, wie kann das Kind gut lernen in Kita und Schule? Und welche Betreuungsangebote gibt es, so dass die Eltern beruhigt zur Arbeit fahren können? Oft klappt das super. Ich sehe das als einen Teil der Aufgaben der SPZ, hier den Eltern Unterstützungsangebote aufzuzeigen.
Deshalb ist es gut, wenn es Möglichkeiten wie das SPZ gibt, wo man begleitet werden kann und nicht alleine mit dem Thema ist.
Das heißt, Sie sind nicht nur hier interdisziplinär aufgestellt, sondern auch in ganz Potsdam gut vernetzt, um die Unterstützung für die Familien gewährleisten zu können?
Genau. Es gibt zum Beispiel die Frühförderstellen. Die sind total engagiert und wir arbeiten ganz eng zusammen – auch außerhalb von Potsdam – weil unser Einzugsgebiet größer ist. Im Land Brandenburg sind die Frühförderstellen noch hauptsächlich heilpädagogisch aufgestellt, so dass wir hier den Weg noch nicht ganz abgeschlossen haben in die interdisziplinäre Frühförderung, was das Bundesteilhabegesetz eigentlich vorsieht.
Machen Sie hier auch Therapie?
Wenig. Oft nur, um ein Kind in der Entwicklung noch einmal über einen Zeitraum genauer zu betrachten. Wir haben aber eine Musiktherapeutin hier für einen Tag pro Woche. Und viele Gruppenangebote, wie Konzentrationstraining für Kinder mit ADHS oder eine Gruppe für an Epilepsie erkrankte Kinder und deren Eltern. Aber auch zu Erziehungskompetenzen. Erziehungsaufgaben verändern sich im Angesicht von schwierigen Situationen, den anspruchsvollen Leistungen, die Eltern erbringen, und den Sorgen, die sie haben. Das kann eine sehr große Belastung sein, wenn man nicht nur dem normalen Erziehungs- und Begleitungsauftrag nachkommen soll, sondern noch einiges mehr aushalten muss.
Zudem gibt es natürlich medikamentöse Therapien und wir verordnen sehr viele Heilmittel, wie Sprach‑, Ergo- oder Physiotherapie. Aber auch Hilfsmittel, wie Rollstühle, Talker etc.
Bis zu welchem Alter kommen die Kinder und Jugendlichen zu Ihnen?
Von 0 bis 18 Jahren. Als Kinder und Jugendärzte kennen wir uns auch ganz gut mit der Jugendproblematik aus. Wenn zum Beispiel ein Jugendlicher mit 16 Jahren eine Epilepsie entwickelt, dann ist das nicht einfach, denn eigentliche befindet er sich im Ablöseprozess vom Elternhaus, und die sitzen vielleicht da und machen sich große Sorgen. Da kann ein Jugendlicher in eine ganz schöne Lebenskrise geraten, wenn sich plötzlich viele Zukunftsaussichten verändern … er darf vielleicht keinen Führerschein machen und auch die Berufswahl ist eingeschränkt.
Gibt es lange Wartezeiten im SPZ?
Man hat zunächst tatsächlich relativ lange Wartezeiten, leider. Akut Erkrankte haben natürlich Vorrang, zum Beispiel bei Verdacht auf Epilepsie. Bei allgemeinen Entwicklungsstörungen im Kitaalter beträgt die Wartezeit mitunter vier bis sechs Monate und Schulkinder warten leider auch schon mal über ein halbes Jahr.
Was sollten Eltern Ihrer Meinung nach noch wissen?
Wir richten hier auftragsgemäß natürlich den Blick vorrangig auf die Defizite der Kinder und Jugendlichen. Aber wir empfehlen gerne auch Angebote, die den Kindern unabhängige, positive Erfahrungen in anderen Bereichen ermöglichen, wie Sport- oder Musikgruppen. Es ist wichtig für alle, den Blick nicht nur auf die Problematik zu richten, sondern sich immer auch auf die Suche nach den Stärken zu machen, um zu versuchen, Perspektiven aufzuzeigen. Und dabei nicht immer an den schulischen Kontext zu denken. Auch Kinder mit einer schweren LRS oder Konzentrationsproblemen können später im Berufsleben und im Leben allgemein glücklich und erfolgreich sein. Wichtig ist, dass man den Kindern und Jugendlichen sagt: „Du kannst wirklich an dich glauben!“
Infos: www.klinikumwb.de
Adresse: Behlertstraße 45a, 14467 Potsdam
Das SPZ Potsdam ist eine der 160 ärztlich geleiteten, multidisziplinären SPZ-Einrichtungen deutschlandweit!